Die erste Hälfte des Jahrzehnts steht im Zeichen einer Auflösung der Welt- und öffentlichen Ordnung
Da die Entscheider in Politik und Wirtschaft unfähig waren, die Krise vorherzusehen, konnte sie sich verselbständigen und schafft inzwischen die eigenen Bedingungen ihres Fortgangs. Die Rettungsaktionen für die Finanzmärkte und Banken durch die Vereinigten Staaten, Europa, China, Japan und andere Länder, für die im Jahr 2009 bisher unvorstellbare Summen aufgebracht wurden, haben nur zwei Dinge bewirkt: Die großen Banken wurden gerettet und die konkreten Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt ausreichend gedämpft, um die Gefahr von sozialen und politischen Unruhen zumindest momentan zu bannen. Aber der Preis, der dafür zu zahlen war, ist extrem hoch: Die Verschuldung der Staaten wuchs bis jenseits des Erträglichen an; und ein großer Teil der Weltwirtschaft (ungefähr 30%) wandelte sich in eine reine Zombie- Wirtschaft, kann also nur noch dank öffentlicher Subventionen oder buchhalterischer Kreativität existieren. Gleichzeitig verloren die Menschen der westlichen Staaten weiter Vertrauen in ihre politische Klasse, von denen sie, zu Recht, den Verdacht haben, nicht mehr Vertreter des Volkes, sondern des Geldadels zu sein.
Dies sind jedoch nur die offensichtlich sichtbaren und letztendlich nur kurzund mittelfristigen Auswirkungen der Krise. Denn in der Krise verwirklichen sich weitere, ältere Trends, die die Welt, wie wir sie bisher kannten, tiefgreifender und längerfristiger verändern werden. Dazu zählen insbesondere der Wiederaufstieg Chinas und Indiens zu global führenden Nationen und der Untergang einer Welt, in der der Westen der Nabel und Maßstab alle Dinge in Politik und Wirtschaft war. Die Entwicklung der Welt im kommenden Jahrzehnt wird durch diese beiden Trends der Krise, also Finanz- und Wirtschaftskrise und Aufstieg Asiens, bestimmt werden. Die Trends sind miteinander verbunden, beeinflussen und verstärken sich daher. Sie sind aber nicht die zwei Seiten einer Medaille. Jahrhunderttrends sind auf Sicht von zehn Jahren gewissermaßen Tatsachen, mit denen man sich abfinden muss, weil man sie nicht ändern kann. Man kann sich lediglich darauf vorbereiten. Hingegen können die kurz- und mittelfristigen Trends, also die von einer Dauer von zwei bis fünf Jahren, durch menschliche Entscheidungen unmittelbar beeinflusst und verändert werden. Menschliche Entscheidungen können dabei die der Entscheider in Politik und Wirtschaft oder auch der einfachen Menschen in ihrer Masse sein.
Die erste Hälfte des kommenden Jahrzehnts wird sowohl durch die längerfristigen Trends, die den Westen aus seiner globalen Vormachtstellung katapultieren, als auch die Auswirkungen der Finanzkrise und vor allen Dingen die Reaktionen auf sie geprägt werden. Denn um die Banken und Finanzmärkte zu retten, überschuldeten sich die Staaten jenseits jeglicher Vernunft. Insbesondere die USA, ohne die die Vormachtstellung des Westens in den letzten 60 Jahren undenkbar war, sind hoffnungslos verschuldet¹. Da China das Hauptelement – und der Hauptnutznießer – des langfristigen Trends des Wiederaufstiegs asiatischer Staaten in eine globale Führungsrolle ist, und die USA im Zentrum der Finanzkrise und ihrer Folgen stehen, ist offensichtlich, dass die amerikanisch-chinesischen Beziehungen für Rhythmus und die Schwere der Katastrophen entscheidend sein werden, die bis zur Mitte des folgenden Jahrzehnts über uns hereinbrechen. Doch auch andere Kräfte werden ihren Anteil an den kommenden Entwicklungen haben: Mächte, die neu auf dem Schachbrett der internationalen Beziehungen auftauchen, solche, die noch nicht verstanden haben, dass ihre Blütezeit zu Ende gegangen ist, und solche, die zu neuer Stärke finden². Sie alle werden versuchen, die Entwicklungen zu bestimmen oder darauf zu reagieren. Ihre Entscheidungen werden sowohl von der Entwicklung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen sowie ihren Einschätzungen über die allgemeinen globalen Trends der kommenden Jahrzehnte abhängen. Dabei können neue und Erfolg versprechende Initiativen, die verhindern würden, dass ein großer Teil der Welt in Chaos fällt, und die ermöglichen würden, bis 2020 eine neue und dauerhafte Weltordnung zu schaffen, nur von den neuen und wiedererstarkten Kräfte ausgehen. Von den USA jedenfalls sollte die Welt sich nichts erwarten. Wenn man sich die Ereignisse seit Ausbruch der Krise vor Augen hält, wird deutlich, dass den Amerikaner und Chinesen wenig Optionen offenstehen, mit denen sie einen Konflikt vermeiden könnten, der beiden Staaten nur schaden wird.
Weder die chinesische noch die amerikanische Regierung scheint in der Lage zu sein, in anderen Kategorien als der Förderung/Verteidigung der eigenen, unmittelbaren Interessen zu denken. Ihr Konflikt und die sich daraus auch innenpolitisch ergebenden Konsequenzen werden ihre gesamte Aufmerksamkeit absorbieren. Daher wird ihnen keine Kapazitäten mehr bleiben, sich Gedanken über die globale Zukunft zu machen. Natürlich ist nicht gewährleistet, dass die anderen Akteure verhindern können, dass die Welt von Morgen sich in ein Nullsummenspiel und damit in eine endlose Reihe von Konflikten zwischen Blöcken verwandelt. Dass es zu solchen zwischen China und Amerika kommen wird, ist sicher; ob es auch zwischen den anderen Mächten dazu kommen wird, entscheiden diese mit ihrer Politik und ihren Weichenstellungen selbst. Das ist auch der Grund, warum in diesem Buch zwei verschiedene Szenarien für die Zukunft entworfen werden. Die Unterschiede zwischen ihnen sind das Ergebnis richtiger oder falscher Politik. Ab 2015 werden die Szenarien, je nach Weichenstellung, deutlich voneinander abweichen.
Aber ich will hier nicht das Ende des Buchs vorwegnehmen. Vielmehr sollen erst im Einzelnen die möglichen Entwicklung der entscheidenden geopolitischen Akteure von 2010 bis 2020 und der allgemeine Rahmen ihrer wechselseitigen Beziehungen analysiert werden.
Diese möglichen Entwicklungen werden eine Abfolge von Ereignissen sein, die zu einem Zerfall der gegenwärtigen Weltordnung führen werden. Entscheidend dabei werden sein:
• Zum einen der Zusammenbruch oder die Handlungsunfähigkeit der wichtigen internationalen Organisationen und der Zentralstellen des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems.
• Zum anderen wie sich die wichtigen geopolitischen Akteure USA, die EU, Russland, Asien und Latein-Amerika entwickeln werden; einige warden bedeutungsloser werden, andere werden sich neu organisieren und damit an Bedeutung gewinnen.
¹ Es mag wohl überraschen, dass ich der Überzeugung bin, dass die USA kein wichtiger Akteur der langfristigen Trends sind, die gerade dabei sind, Wirksamkeit zu entfalten. Aber sie waren in der globalen Weltordnung lediglich der Statthalter Europas, als Europa im 20. Jahrhundert seine schmerzhafte Wandlung von einer Ansammlung europäischer Mächte in „die europäische Macht“ vollzog. Die Europäische Union könnte neben China, Indien und Russland zu einer der neuen globalen Mächte des 21. Jahrhunderts heranwachsen. Dabei würde ihr Aufstieg von der Tatsache erleichtert, dass sie als globaler Akteur bis in die neunziger Jahre hinein nicht existierte. Erst der Fall der Berliner ermöglichte den Quantensprung im Prozess der europäischen Integration. Ich werde im weiteren Verlauf des Buchs noch auf diesen Aspekt näher eingehen.
² In diese letzte Kategorie sind Russland, China, Indien … und die EU einzuordnen. Diese Staaten (bzw. Für die EU „staatsähnlichen Gebilde“) waren in ihrer Geschichte schon einmal Großmächte. Hingegen sind Brasilien oder auch Süd-Afrika wirklich neue Akteure in der Geopolitik. Und die USA sind heute ohne Zweifel eine Weltmacht der Vergangenheit.
Die USA vor einem « perfekten Sturm »
Für die USA ist ab 2010 die Gefahr eines Zerfalls des Staatsgebiets kein abstruses Gedankenspiel ohne konkreten Hintergrund. Nathan P. Freier vom Strategic Studies Institute des Army War College der USA¹ behandelt diese Gefahr als eines von vier Themen in einem Bericht an das Pentagon vom Dezember 2008. Er beschreibt darin die Möglichkeit einer Desintegration des Hoheitsgebiets und der Grenzen der USA als Folge der Krise. Wenn man sich die drei obengenannten Faktoren betrachtet, die ein Land besonders anfällig für die Krise machen, wird erkennbar, dass alle in besonderem Maße auf die USA zutreffen. Die USA sind insoweit einem „Perfekten Sturm“ ausgesetzt.
• Aus der oben aufgeführten Liste der vier politischen Entitäten sind die USA natürlich diejenige, die als einzige ausschließlich auf das Fundament aus Dollar und Schulden gründet. Ihre Währung und die Fähigkeit, sich grenzenlos zu verschulden, waren in den letzten Jahrzehnten sogar Quellen ihrer Macht und ihres Reichtums. Heute ist das gesamte US-Finanzsystem insolvent und der Gelddruckpresse der Fed droht die Überhitzung².
• Das soziale und wirtschaftliche Relief des Landes ist wesentlich ausgeprägter als allgemein angenommen. Die Vorstellung eines einheitlichen, uniformen Amerikas vom Atlantik zum Pazifik ist mehr Mythos als ein Abbild der Realität. Die sozialen und ethnischen Spannungen nehmen an Intensität zu. Die Grenze des Landes zu Mexiko ist inzwischen dem Ansturm mexikanischer Drogenbanden ausgesetzt. Die wirtschaftlichen Interessen der Regionen driften immer weiter auseinander. So sind z.B. die Probleme des beinahe bankrotten Kaliforniens bei weitem nicht die gleichen wie die der Staaten im Rostgürtel des Ostens, deren Automobilindustrie zusammen gebrochen ist. Und Florida hat ganz andere Probleme als Texas, das wiederum andere Probleme hat als New York. Die reicheren Bundesstaaten wollen nicht für die ärmeren bezahlen. Und Sezessionsbestrebungen finden meist ihren Anfang in wirtschaftlichen Divergenzen und dem Unwillen, gegenüber den schwächeren Regionen Solidarität zu zeigen.
• Das Quasi-Monopol der Bundesregierung bei der Krisenbekämpfung führt zu zentralisierten und standardisierten Maßnahmen, die die unterschiedlichen Situationen in den verschiedenen Bundesstaaten nicht oder kaum berücksichtigen. Die mit den bundesstaatlichen Krisenbekämpfungsmaßnahmen seit einem Jahr gesammelten Erfahrungen zeigen, dass sie daher auch wenig wirksam sind.
Für den neuen Präsidenten ist sein großes Vorbild unter den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln. Das könnte noch zur gefährlichen Analogie ausarten. Denn Lincoln steht nicht nur für die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch für den Bürgerkrieg und den Greenback, die Währung, mit der die Regierung ohne jede Absicherung mit Gold oder Silber den Krieg finanzierte. Nach dem Krieg wurde diese Geldmenge ohne Gegenwert mit einer sehr hohen Inflation und um den Preis einer langjährigen Depression abgebaut. Barack Obama sollte sich vor solchen Anleihen in der Geschichte hüten, denn Geschichte hat einen ausgeprägten Sinn für Ironie.
¹ Quelle : StrategicStudies Institute, 04.November 2008
² Nach einem Bericht von MarketWatch vom 9.Februar 2009 werden bis 2014 mehr als 1000 amerikanische Banken bankrott gehen.
Die Eurozone als einziger Motor der europäischen Integration
Glücklicher Weise ragt aus diesem verlorenen Jahrzehnt eine institutionelle Errungenschaft heraus, nämlich das langsame Erstarken der Eurozone, die langsam, zu langsam, in die Rolle des Motors der europäischen Integration hineinwächst. Dies ist eine geradezu natürliche Folge der Schaffung des Euros, der die Mitgliedsländer zu einer Schicksalsgemeinschaft verband. Die Eurozone ermöglichte die Ausgrenzung Großbritanniens, dessen Zielrichtung von der der kontinentaleuropäischen Ländern deutlich abweicht. Das wird für mindestens ein Jahrzehnt noch so bleiben. Die gegenwärtige Krise hat sicherlich diese Ausgrenzung noch verstärkt, bzw. dazu geführt, dass heute Großbritannien nicht mehr so sehr die EU beeinflusst, sondern vielmehr die EU Großbritannien, die Londoner City und ihre Zukunft. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten zehn Jahren sicherlich noch verstärken, wenn Großbritannien nicht mehr auf die Unterstützung der USA wird zählen können und die Macht der City Geschichte sein wird. Dann wird sich Großbritannien als schwaches Land an der Peripherie Europas wiederfinden.
Dann kann das europäische Projekt wieder an der Stelle neu beginnen, wo es zu Beginn der achtziger Jahre von der Politik Margaret Thachters auf Abwege gebracht wurde, als die von der britischen Regierung in der Kommission platzierten Beamte ihr Zerstörungswerk begannen. Heute ist die Europäische Zentralbank¹ das Fundament der europäischen Unabhängigkeit und des Neubeginns des Projekts der kontinentaleuropäischen Einigung. Die Eurozone wird dem Projekt der europäischen Integration neues Leben einhauchen. Dafür bedarf es einer europäischen Wirtschaftsregierung unter demokratischer Kontrolle. Nur über diesen Umweg kann die historische Herausforderung der Demokratisierung² der EU Erfolg haben. Ein Versuch, die Demokratisierung unmittelbar in der Gemeinschaft der 27 Mitgliedstaaten umzusetzen, dürfte zum Scheitern verurteilt sein.
Mit Hilfe des Euro, inzwischen eine der großen Weltwährungen, lässt sich auch leicht der Bogen zur zweiten großen Herausforderung für Europa im kommenden Jahrzehnt schlagen, nämlich zur Frage der Rolle Europas in der Weltpolitik. Wie schon ausgeführt, bietet die gegenwärtige Krise die historisch einmalige Chance für die Europäer, sich wieder einen Platz als wichtige Akteure auf der Weltbühne zu ergattern, die über die Geschicke der Welt im nächsten Jahrhundert mitentscheiden. Wir haben schon ausgeführt, was alles für eine solche Rolle Europas spricht. Bei der notwendigen Neugestaltung des internationalen Währungssystems besteht für Europa die Möglichkeit, in diese Rolle hineinzuwachsen. Wenn ein paar Jahre später die USA sich aus Europa zurückgezogen haben und die Konfliktrisiken, je nachdem, welches Szenario sich verwirklichen wird, stärker oder schwächer anwachsen werden, wird es Zeit sein, Großbritannien bei dem Projekt einer eigenständigen europäischen Verteidigungspolitik wieder näher an Europa heranzuführen.
Am Lissaboner Vertrag war ja nicht alles schlecht. Gut war sicherlich die Schaffung eines europäischen diplomatischen Dienstes. Er wird in den kommenden Jahren in die Rolle hineinwachsen, das „europäische diplomatische Interesse“ zu wahren, unabhängig von der Qualität des „Hohen Repräsentanten“, dem auf dem Papier die Aufgabe obliegt, den diplomatischen Dienst zu führen. Spätestens ab der Mitte des kommenden Jahrzehnts muss aber der europäische diplomatische Dienst in der Lage sein, Europa in der Weltpolitik zu vertreten, wenn man verhindern will,dass die Welt den Weg in die Tragödie beschreitet.
¹ Sie ist ein Modell für das zukünftige institutionelle System. Denn nicht nur liegt sie nicht auf der Achse der Europastädte rüssel, Luxemburg und Straßburg. Auch gibt es bei ihr nicht mehr die lebenslangen Karrieren ihrer Beamten, geschweige denn einen lebenslangen Schutz vor Strafverfolgung.
² Die Demokratisierung kann nur von unten kommen, von den Menschen. Der Prozess hat bereits seit Beginn der neunziger Jahre eingesetzt: Die Erasmus – Generation kam ins Arbeitsleben, Internet und billige Telekommunikationskosten erlaubten den Aufbau europaweiter Bürgerinitiativen, Vertrauensverluste der nationalen Politkaste, steigendes Bewusstsein von der Bedeutung der europäischen Entscheidungen. Insoweit hat die Krise der Eurozone einen großen Dienst erwiesen.